Watzmannmarathon 2010
Halb zwölf. Es ist stockfinster, der fast noch volle Mond wird von den Bäumen verdeckt. Ich sehe nur den Lichtkegel meiner Fahrradlampe und werde durch die Scheinwerfer der entgegen kommenden Autos immer wieder geblendet. In wenigen Minuten solls losgehen.
Ich zweifle ein wenig an unserem Vorhaben. Nicht weil ich glaube, dass wir es nicht schaffen werden, sondern weil es einfach unvorstellbar ist, so lange wir nicht angekommen sind.
Wir sind zu viert, Pablo, Alejandro, Sven und ich. Gemeinsam haben wir die Leidenschaft fürs Radfahren und die wunderschöne Bergwelt. Dazu mischt sich der Drang auch große Distanzen mit dem Rennrad in kurzer Zeit und am Stück zu überbrücken und anschließend die Tour mit einem Berggipfel zu krönen.
Wir starten am 22. August um 0:00 Uhr in Nürnberg/Altenfurt. Das Ziel, der Watzmanngipfel, liegt gut 300 km enfernt und 2400 m höher.
Etwas unsicher brechen wir auf. Unser Ideengeber und Routenplaner Pablo fährt vorne und schlägt ein hohes Tempo an. Schließlich wollen wir nicht nur ankommen, sondern am Samstag Abend zur Essenszeit nach erfolgreicher Besteigung des Watzmannes an der Watzmannhütte sein.
Das Tempo wird durch den ersten Wechsel auf Alejandro noch ein wenig schneller, so dass ich an den kleinen Wellen der B 8 Richtung Neumarkt manchmal Schwierigkeiten habe zu folgen.
Wir wollen als Gruppe fahren und den Windschatten der Anderen immer optimal ausnutzen. Jeder fährt so lange vorne, wie er möchte und kann sich anschließend im Windschatten der Mitstreiter wieder ausruhen.
Nach einer guten halben Stunde haben wir unser Tempo gefunden und rollen harmonisch im Schein des Mondes lautlos durch die Nacht. Die ersten dreieinhalb Stunden verfliegen förmlich. Wir passieren erst Neumarkt, dann hinter Beilngries die erste längere Steigung und vor Neustadt an der Donau den Weißwurstäquator.
Plötzlich merke ich, wie müde ich bin.
Der wenige Schlaf am Nachmittag rächt sich jetzt. Die Zeit bis Landshut, unserem ersten Pausenstopp, wird sehr lang. Irgendwann taucht ein Schild auf: noch 28 km. Bis zum nächsten Schild vergeht eine quälend lange Zeit. Ich konzentriere mich auf meinen Lichtkegel und das Hinterrad meines Vordermannes und trete einfach weiter. Schließlich erreichen wir in Landshut die Tankstelle, an der wir den ersten Stopp machen. Ich freue mich auf eine Viertelstunde Schlaf, einen Kaffe und darauf, vom Rad steigen zu dürfen.
Es ist 4:45h und wir haben bereits 143 km hinter uns gebracht.
Nach 45 Minuten Pause geht es zunächst wieder bergauf. Jetzt zeigt sich erstmals die Sonne als riesengroßer, glutroter Ball, der sich langsam in den Himmel schiebt und wieder kleiner wird. Hinter Vilsbiburg verlassen wir die B299 und fahren auf Nebenstraßen über Ampfing nach Trostberg, dann weiter auf der stärker befahrenen B304 nach Traunstein. Hier ist bei Kilometer 240 der zweite Stopp. Wir verpflegen uns beim Bäcker und ruhen unsere müden Beine bis 10 Uhr viel zu kurz aus, da Pablo zum Aufbruch drängt. Jetzt warten zwar nicht mehr viele Kilometer auf uns, die jedoch gehen meist bergauf. Ab jetzt sind die Straßen voller Urlauber und wir merken, dass es bis Trostberg nahezu autofrei war. Kein Wunder um diese Uhrzeit.
Pablo und Alejandro haben jetzt die Führung übernommen und ziehen uns geduldig bei Gegenwind über die wellige Straße. Hinter Weißbach verlässt uns unser Nichtbergsteiger Alejandro, ohne den die Tour bis dahin ungleich schwerer und bei weiten nicht so schnell verlaufen wäre.
Sven, Pablo und ich erklimmen in der prallen Sonne bei in zwischen 27 Grad den letzten Anstieg – 6 km lang, bis 12 % Steigung.
Das ist ein Finale.
Um Punkt 12.00 Uhr erreichen wir den Parkplatz an der Wimbachbrücke, unserem Wanderstart, wo wir die Räder mit den Rucksäcken tauschen, die uns von Peter und Sandra mit dem Auto hierher gefahren wurden. Nach einer Stärkung geht es um 12:45h auf Schusters Rappen mit ungewohnten Bewegungsablauf weiter. Rasch überwinden wir die ersten sehr steilen 600 Höhenmeter und kommen auch auf dem weiteren Weg sehr gut vorwärts. Die Sonne brennt heiß und uns perlt der Schweiß wie Wasser herunter. Um 15.15 Uhr erreichen wir das Watzmannhaus, wo wir ein paar Gepäckstücke verstauen. Eine halbe Stunde später befinden wir uns bereits im Aufstieg zum Hocheck. Der Weg wird beschwerlicher, jetzt ist Trittsicherheit gefragt. Ich spüre die Anstrengung und werde langsamer, muss häufiger Trinkpausen einlegen. Irgendwann sind Pablo und Sven deutlich schneller als ich. Ich lasse sie voran gehen und gehe langsam hinterher. Die kurze, unschwierige Kletterstelle vor dem Hocheckgipfel verlangt mir alles ab.
Nach 17 ½ Stunden stehen wir gemeinsam am ersten Watzmanngipfel. Bis hierher haben wir 300 Radkilometer hinter uns gelassen und 4000 Höhenmeter überwunden. Pablo und Sven wollen gleich über den Klettersteig weiter zum Mittelgipfel. Ich lasse diese Etappe ausfallen, bin zu müde und erschöpft um noch sicher am Grat steigen zu können.
Den ganzen Tag wurden wir von traumhaften Wetter verwöhnt, jetzt aber verhindern die Wolken jede Fernsicht. Beim Hocheck-Biwak lege mich ich auf die Bank. Neben mir kochen zwei Österreicher ihr Abendessen. Sie haben heute die Ostwand durchstiegen und sind hungrig. Ich dagen bin zu erschöpft um Hunger zu haben und schlafe augenblicklich ein. Kurz nach 18 Uhr wache ich auf und mache mich auf den Weg. Das viele Geröll und lose Gestein machen den Abstieg nicht einfacher. Gemsen beobachten meine langsamen Schritte. Als ich das Watzmannhaus gegen 20 Uhr erreiche ist mir so schlecht, dass ich mich noch vor der Hütte setzen muss. So viel wie an diesem Tag habe ich mir bisher noch nie zugemutet.
Als Pablo und Sven eine halbe Stunde später vom Mittelgipfel zurück kehren, geht die Sonne gerade unter. Diesen Tag haben wir perfekt ausgenutzt und ohne Pannen überstanden. Nach über 20 Stunden Radfahren und Wandern freuen wir uns auf anständiges Essen und unser Feierabendbier. Das haben wir uns heute wahrlich verdient.
Tobias Handke